In Italien betreuen die Grosseltern die Enkel und behalten so die Kontrolle über die Familie. Das hat auch mit einer überforderten mittleren Generation zu tun. Diese wurde nie richtig erwachsen und wirkt doch schon alt.
Rossana sitzt in ihrer Stube in Velletri, einer kleinen Stadt südlich von Rom, und näht einen Saum um. Die Bluse gehört ihrer Tochter Immacolata. Diese ist mit 45 Jahren längst kein Kind mehr. Doch für solche Dinge hat sie keine Zeit. Sie arbeitet im Büro auf einer Gemeinde des benachbarten Dorfes. Und sie ist Linkshänderin, wie Mutter Rossana anfügt. «Wie will sie da richtig mit Nadel und Faden umgehen können?»
Es war nicht scherzhaft gemeint. Rossana hält alle Fäden in der Hand, die das Familienleben durchwirken – und sie gibt sie auch nicht freiwillig aus der Hand. Selbst Immacolatas Töchter gehören zu ihrem Dossier. «Ich war es, die sie grossgezogen hat», sagt Nonna Rossana, «bis auf die Geburt habe ich alles gemacht.» Und so soll es weitergehen, auch mit 73. Einzig die Aktivitäten haben sich etwas verschoben.
Früher wollten die Mädchen spielen, der Nonna beim Kochen helfen, Fragen stellen. Heute wollen sie sich bei ihr vom anstrengenden Lernen fürs Gymnasium ausruhen. Geblieben ist der Taxidienst. Die 17-Jährige Laura muss bald von der Badi abgeholt werden. Sie gab gerade telefonisch durch, wann die Grossmutter vorfahren soll. Und könne die Kosmetikerin der Nonna, die ab und zu vorbeikommt, auch gleich noch ihre Füsse behandeln?
Wozu Krippe? Es gibt ja die Familie
Laura und ihre Schwester Alessandra gehören der grossen Mehrheit im Land an: 64 Prozent der italienischen Kinder wachsen mehr oder weniger mit den Grosseltern auf. Das hat eine wissenschaftliche Studie der Soziologin Maria Luisa Mirabile ergeben. Den italienischen Senioren komme damit eine Rolle zu, wie sie in nordeuropäischen Ländern in diesem Ausmass nicht zu finden sei, heisst es in der Studie.
Als Hauptgrund nennt Mirabile die bäuerlichen Wurzeln des Landes. In Italien ist die Familie traditionellerweise für die Sozialisation der Kinder zuständig. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn heute Dienstleistungsbetriebe und Industrie dominieren. Italien ist zudem kein Wohlfahrtsstaat. Es gibt kaum Krippen, Tagesschulen und andere Formen von Fremdbetreuung. Zudem scheitern Initiativen auf privater Basis oft an den hohen bürokratischen Hürden.
«I nonni servono e ti servono», sagt Soziologin Mirabile. Die Grosseltern sind nützlich, und sie wissen zu dienen.
Doch selbst wenn es mehr Betreuungsangebote gäbe – ob sie auch auf eine entsprechende Nachfrage stiessen, ist fraglich. Vielen Familien fehlt das Geld für die Kita oder eine Nanny. Die Wirtschaftskrise dauert an, die Arbeitslosigkeit bleibt mit derzeit 11 Prozent hoch. Die Grosseltern – primär die Nonne, in zweiter Linie die Nonni – kommen da wie gerufen. Sie kosten nichts und sind jederzeit verfügbar. «I nonni servono e ti servono», sagt Soziologin Mirabile. Die Grosseltern sind nützlich, und sie wissen zu dienen.
Auf den Schultern der italienischen Grosseltern lastet demnach sehr viel, auch ökonomisch betrachtet. Die Soziologin hat ausgerechnet, dass die Freiwilligenarbeit der Pensionierten umgerechnet jährlich einen Betrag von 18,3 Milliarden Euro ergibt. Das entspricht 1,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Keine der grossen nationalen Firmen erreicht diesen Wert, nicht einmal die Fiat.
Rüstige Senioren haben andere Pläne
Eigentlich würde man verstehen, wenn die Pensionierten das arbeitsfreie Leben noch anderweitig geniessen möchten. So gesund, rüstig und finanziell gutgestellt wie keine Generation vor ihr, hätte sie viele Möglichkeiten, die neue Freiheit zu gestalten. So wie es viele Schweizerinnen und Schweizer jenseits der 65 tun.
Zwar verpflichten sich Grosseltern auch in der Schweiz weiterhin in hohem Mass dazu, die Betreuung ihrer Enkel zu übernehmen: Rund die Hälfte der Eltern, die ihre Kinder regelmässig von anderen betreuen lassen, greift auf die Grosseltern zurück, was einer Arbeitsleistung von über 8 Milliarden Franken oder über 438000 Stunden täglich entspricht, wie das Bundesamt für Statistik (BfS) für 2018 errechnet hat. Doch viele Ältere lernen, etwas egoistischer zu sein und eigene Bedürfnisse voranzustellen: Sie reisen, gehen an die Senioren-Uni, treffen sich mit Freunden, besuchen kulturelle Anlässe.
Die italienischen Seniorinnen und Senioren scheinen da weitaus genügsamer. Reisen interessiert sie nicht – es sei denn, die Enkel kommen mit. Und sollte es noch Träume geben, dann haben die mit Gesundheit und Familie zu tun. Von Gebrechen verschont bleiben etwa. Oder dass der Sohn eine gute Frau findet.
Auch rechnen die Älteren kaum damit, dass es dereinst umgekehrt sein könnte, wenn sie selber pflegebedürftig sind; dass sie also etwas für ihren Einsatz von der Familie zurückerhalten. Sondern viele Italiener lassen sich im Alter von Osteuropäerinnen betreuen. Das bezahlen dann natürlich nicht die Kinder – sondern sie selbst.
Auch die 72-jährige Luigia erbringt Opfer, ohne dass es für sie etwas Aussergewöhnliches wäre. Denn sie behält so die Kontrolle. Bis zu acht Personen lebten in den vergangenen Jahren in ihrer Dreizimmerwohnung. Vor Kurzem ist die jüngere Tochter mit ihrem Mann und dem Sohn ausgezogen, weil sie wieder etwas Geld verdienen. Die ältere, geschiedene Tochter mit den zwei Söhnen lebt noch immer da. Der Sohn der Jüngeren schaut aber täglich bei der Nonna vorbei und nimmt bei ihr mindestens eine Mahlzeit ein – sieben Tage die Woche.
Enkelkinder halten geistig jung
Luigia putzt, kocht, bringt die Enkel zur Schule, erzieht sie mit. Die bei ihr lebende Tochter arbeitet in der Gastronomie, wo sie eine hohe Präsenzzeit hat. Hilfe kann Luigia auch nicht von Roberto erwarten, ihrem Mann. In Italien weiss die Mamma zu dienen.
Sitzen dann aber einmal alle am Tisch, werden nur die positiven Erfahrungen des Grosselternmodells geteilt. Der 14-jährige Gabriele bewundert die Nonna, weil sie immer tue, was sie zu tun habe. Auch Alessandro, 19, zeigt sich beeindruckt von der Disziplin der Grossmutter. Sie inspiriere ihn, wenn er mal einen Durchhänger habe. Nonna Luigia wiederum weiss es zu schätzen, wie die Jungen ihr helfen, geistig und körperlich fit zu bleiben. Und Nonno Roberto findet es gut, dass er dank dem Know-how-Transfer der Enkel seine Schuhe günstig im Internet erwerben kann.
Die mittlere Generation in Italien hängt materiell fast ausschliesslich vom guten Willen der Nonni ab.
Und, okay, sagt Gabriele, der Enkel: «Manchmal fliegen die Fetzen.» Doch nur für kurze Zeit. Die Grosseltern sind abgebrüht, haben Erfahrung im Umgang mit Trotz oder Unzuverlässigkeit der Jugend und sind doch etwas weniger nahe als die Eltern. Auch die Pubertierenden profitieren von der grösseren Distanz, die beim hormonellen Durcheinander beruhigend wirken kann.
Tutto bene, also? Nicht für den italienischen Philosophen Damiano Cantone. Er sieht Probleme auf das Land zukommen, gerade weil es sich dem Nonni-Prinzip verschrieben hat. Das Bild der italienischen familiären Innigkeit sei wie ein «opulentes Zuckerkonfekt», das zwar «aussen schön und süss» daherkomme, «doch im Innern steckt ein bitter schmeckender Kern». Die Alten sind der Motor der Familie und des Landes, doch was, wenn sie einmal nicht mehr sind? «Eine Übergabe der Macht an die jüngere Generation hat nie stattgefunden», sagt Cantone.
Die Kinder sind finanziell total abhängig
Die Turbo-Nonni haben immer alles selber gemacht, deshalb behalten sie auch in der Familie das Sagen. Die Generation der heutigen Grosseltern ist während des wirtschaftlichen Booms von den sechziger bis zu den achtziger Jahren zu Geld und Macht gekommen. Ihre Kinder dagegen sind mittellos geblieben – einerseits wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, andererseits weil sie zu träge waren und sie es sich im Schatten der arbeitsamen Eltern bequem machen konnten. Die mittlere Generation hängt materiell fast ausschliesslich vom guten Willen der Nonni ab. Geht es etwa um den Erwerb einer Liegenschaft oder eines Autos, muss sie bei den Eltern anklopfen.
Diese Situation der Ohnmacht hat die mittlere Generation Italiens zu ängstlichen, konservativen und lethargischen Bürgern gemacht. «Sie fühlen sich von der Welt überfordert und sind geistig bereits in Pension gegangen», sagt Cantone. Kurz: Die 25- bis 45-Jährigen zeigen ein Verhalten, wie man es früher den Greisen zusprach.
Die Eltern wiederum fördern die Ablösung nicht gerade mit ihrer Hingabe zum Nestbau, in deren Genuss sowohl Kinder wie Enkelkinder kommen. Nonna Rossana hat die Bluse inzwischen fertig gestickt und legt sie auf den Tisch, damit ihre Tochter sie abholen kann. Hinter ihr an der Wand hängen zwei Bilder. Eines zeigt eine ältere Frau mit hochgesteckten weissen Haaren, die eine Tafel in der Hand hält. «Da Nonna Asilo, 24h su 24», steht darauf. Frei übersetzt: Kindergarten Grosi, 24 Stunden in Betrieb. Gleich daneben ein Stoffherz mit der Inschrift: «L’affetto dei nonni è un tesoro sulla terra». Die Zuneigung der Grosseltern ist der Schatz dieser Erde. Laura und Alessandra, die beiden Enkelinnen, haben Rossana die Sinnsprüche geschenkt.
Immer da, wenn sie gebraucht werden, geliebt für ihr grosses Herz: schwer vorzustellen, was wäre, wenn die Grosseltern fehlten.
Nina Fargahi
Marc Zollinger